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Das Steuerungsinstrument Sinnvision

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Auch schon gekündigt? Rund 20 Prozent der deutschen Arbeitnehmer befinden sich im Zustand der inneren Kündigung. Dieser Umstand bedeutet für die Wirtschaft einen Verlust von bis zu 109 Millarden Euro im Jahr. Was läuft da falsch?
Wenn die Wertvorstellungen zwischen Unternehmen und Arbeitnehmer zu weit auseinander gehen, schadet dies der Entstehung einer kollekti- ven Identität, und wertvolle Potentiale gehen verloren. Daher liegt ein großes Optimierungspotential für Organisationen in der Verbesserung der Beziehungen der Menschen innerhalb sozialer Systeme. Es gilt ge- meinsame Sinnvisionen zu generieren. Denn durch gelebte moralische Werte und soziale Verantwortungsübernahme gelingt die Navigation so- zialer Systeme zum Vorteil aller Beteiligten auf den Wellen einer kom- plexeren Rationalität.
Das unsichtbare Band der Werte im Hintergrund der Hierarchie vermag es, den Weg zu einer kollektiven Identität zu weisen. Von dort aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Wiedereinbindung verlorengegangener Mit- arbeiter sowie zur letztendlichen Freilegung potentieller Ressourcen, die im Standby-Modus verharren. Ein weiterer Vorteil ist es, dass die wie- dergewonnene Flexibilität der Organisation dank einer starken Bezie- hungskultur und „Sinn-Gemeinschaft“ auch in turbulenten Zeiten er- halten bleibt. Und wer in Führung geht, der weiß, dass immer ein Wind bläst.
Eine komplexere Rationalität
Die Zukunft der Führung wird „emotional“ sein, eine stärken- und wer- teorientierte Führung, die auf „emotionaler Intelligenz“ fußt. Denn die Wissens-, Erfahrungs- und Leistungsträger in einem sozialen System wollen ihre Werte und Fähigkeiten besonders dann einbringen, wenn sie sich respektvoll geleitet fühlen. Auch wächst die Bereitschaft, Ver- antwortung für sich selbst zu übernehmen. Wichtig ist die gegenseitige Wertschätzung, in ihr liegt der Schlüssel zu einem identitätsstiftenden Miteinander. Aus Zielen müssen gemeinsame Ziele werden.
Ist erst eine gemeinsame Sinnvision aufgebaut, können nun die we- sentlichen Unternehmensentscheidungen (Ziel, Strategie, Human-Res- sources und Organisation) abgeleitet werden. Dabei bleibt die ent- scheidende Stellgröße in Organisationen die Steuerung und Führung der hoch komplexen und vernetzten sozialen Subsysteme (Leitungs- und Mit- arbeiter-Teams). Ziel ist es, eine komplexere Rationalität zu erreichen, doch ohne einen Vertrauensvorschuss wird das nicht funktionieren. Denn letztendlich geht es um den Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, wie Niklas Luhmann bereits 1968 in seiner Abhandlung über das Vertrauen schrieb: „Es ergäben sich mehr Chancen für komplexere Rationalität, wenn ich auf ein bestimmtes künftiges (bzw. gleichzeitiges oder vergangenes, für mich aber erst künftig festellbares) Handeln an- derer vertrauen möchte.“
Vertrauen und Verantwortung bilden das Fundament der Führung so- zialer Systeme, es verfestigt sich durch gute und häufige Kommunikati- on und faire und transparente Entscheidungen. Denn Vertrauen liegt nur dann vor, „wenn die vertrauensvolle Erwartung bei einer Entscheidung den Ausschlag gibt – andernfalls handelt es sich um eine bloße Hoff- nung“ (Luhmann, ebd.). Doch Mitarbeiter wollen nicht hoffen, sie wol- len vertrauen. Hier liegt die Verantwortung von Führung. Denn das Ge- nerieren von Sinnvisionen bedeutet vor allem auch auf Leitungsebene (Beziehungs-)Arbeit. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass nicht nur eine gemeinsame Zieldefinition Mitarbeiter motivieren kann, sondern auch das gemeinsame Tun und die dabei gelebte Kultur. Jeder Mitarbeiter einer Organisation verfügt über eigene Werte. Was alle Beteiligten ver- binden soll, ist der gemeinsame Weg zur Realisierung dieser verschie- denen Werte. Durch Reflexion des eigenen Verhaltens entsteht Ver- ständnis für den eigenen als auch für den Standpunkt des Anderen. Er- folgt eine Verdichtung der Werteebene, steigert dies die synergetische Kraft, da eine komplexere Rationalität sich frei entfalten kann. Die dies- bezüglichen Erhebungen der letzten Jahre verdeutlichen es: Wenn so- ziale Systeme von einer gemeinsamen Sinnvision getragen und motiviert werden, sind Mitarbeiter zu wahren Hochleistungen fähig. Deshalb soll- te Führung, wenn sie erfolgreich sein will, die Aspekte der vorhandenen Wertesysteme sowie ihr Wandel in die Personalführung und Personal- entwicklung integrieren.
Wertesynthese innerhalb sozialer Systeme
Einen klaren Vorteil bringen also gemeinsame Werte. Aber was sind ei- gentlich Werte? Haben Sie schon mal konkret über ihre Werte nachge- dacht? Ist es Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freundschaft? Oder Lei- stung, Ordnung und Familie? Oder beides? Und was bedeutet dies für ihr Leben und für Ihre Arbeit mit Menschen in Organisationen?
Die Werteforschung bestätigt einen Wertewandel in eine individualisti- sche Trendrichtung. Insgesamt kann eine Verschiebung von materiellen zu immateriellen Werten festgestellt werden. „Selbstbestimmung statt Unterordnung“, heißt der Trend. Doch Wertewandel ist nicht gleichzu- setzen mit Werteverfall. Ein gutes Beispiel dafür ist die Dynamik des Wer- tes Leistung. Der Wertewandel zeigt, dass Menschen verstärkt dazu ten- dieren, nur dann etwas leisten zu wollen, wenn sie dabei ihre selbst ge- steckten Ziele verwirklichen können. Dies bedeutet für die Führung: De- legation von Vertrauen und Verantwortung bei freier Einteilung der Ar- beitszeit. Die Pluralität der unterschiedlichen Werte bereichert den Ein- satz aller Beteiligten, wenn es gilt die (Kunden-)Probleme zu lösen. Die Koexistenz widersprüchlicher Werte ist wiederrum Garant für einen Plu- ralismus der Emergenz. Hier gilt es auf Synergien zu setzen. Der ent- scheidende Punkt dabei ist die emotionale Intelligenz, also die Sensibi- lität für die Ideen und Gedanken des Anderen und die Aufmerksamkeit, mit der man dem Gegenüber begegnet. Ist diese Synthese der Werte ge- meistert, ergibt sich der Sinn wie von selbst. Denn Sinn entzündet sich an immateriellen Werten wie Vertrauen und Verantwortung. Doch zuvor muss der Ring geschmiedet werden
Vom Wert zum Mehrwert
Die Kultur von Systemen ist von den Traditionen, Gewohnheiten und der „Sinn-Bildung“ über Generationen von Führungskräften und Mitarbeitern geprägt. Die Geschichte der Systeme wirkt direkt in die Gegenwart hin- ein, denn die Rolle der Mitarbeiter wird durch die Kultur der Struktur, in der sie ihre Aufgaben erledigen, geprägt. Dabei bringen die Mitarbeiter durch ihre Biographien Werthaltungen mit, mit denen sie wiederum die Organisation prägen. Das reziproke Moment dieses Prinzips sollte nie ver- gessen werden. Doch da die System-Steuerung und ihre Entscheidungen die Zielerreichung einer Organisation in einem hohen Maße beeinflussen, sollte die Leitung dabei respektvoll eine authentische Einheit bilden, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Somit liegt es in der sozialen Verantwortung von Führung, Vertrauenserosion aufzuhalten und in eine positive Kraft des Sinns und der Gestaltung zu transformieren. Auch un- ter erfolgsorientierten Gesichtspunkten gibt es hierzu keine Alternative.
Unsere Aufgabe als Berater ist es, Führungs-Kräfte im Rahmen der Führungs-Kräfte-Beratung in werteorientierten und ethischen Frage- stellungen der Unternehmens-Philosophie persönlich zu begleiten und zu unterstützen. Auf der Reflexionsebene könnten sich beispielsweise folgende Fragen ergeben: Steht mein Sinn im Zusammenhang mit der Vision meines sozialen Systems? Sind die Unternehmens-Ziele sozial, technologisch, ökonomisch und ökologisch nachhaltig? Darf jeder in dem System seinen eigenen Platz finden und seine persönliche Kraft- quelle erreichen? - Die Basis dafür wäre ein größtmöglicher individu- eller Freiraum und ein hohes Zugehörigkeits- und Verantwortungsgefühl gegenüber dem gemeinsamen Team-Ziel und der Sinnvision.
Im konkreten Fall ergibt sich ein Beratungsdarf, der zu 20 Prozent eine Haltungsänderung der Beteiligten anvisiert und zu 80 Prozent eine Ver- haltensänderung. (Das bedeutet gerade für den Berater: ein lebenslan- ges Lernen.)
Im Idealfall resultieren aus einer gemeinsam geschmiedeten Philosophie eine einheitliche Identität und eine daraus abgeleitete, verbindlich ge- lebte stärken- und werteorientierte Kultur. Ist dieser Zustand erreicht, be- darf es der nachhaltigen Ausrichtung, denn Vertrauen ist kein statischer Zustand. Ist es verloren gegangen, ist eine Organisation auf dem Markt nicht mehr konkurrenzfähig, denn es fährt mit angezogener Hand- bremse und will doch auf die Überholspur. Lassen Sie es nicht soweit kommen. Vertrauen wird zwar nicht verschenkt, aber man kann es sich verdienen.
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Autor: Mark Thiel (*1969)
Dipl. Betriebswirt, Supervisor DGSv
Seit 1994 freie Beratertätigkeit in der Führungskräfte-Entwicklung, diverse Branchen & Lehrerfahrung in Personal- & Unternehmensführung an Hochschulen Buchautor „Diversity Management“ & Zusatzausbildung zum Strategieberater Lehrtätigkeit am Institut für Humanistische Psychologie IHP